LINDNER-Interview: Wir beenden die expansive Finanzpolitik
Der FDP-Bundesvorsitzende und Bundesminister der Finanzen Christian Lindner gab der „Rheinischen Post“ (Freitag-Ausgabe) und der „Rheinischen Post Online“ das folgende Interview. Die Fragen stellte Birgit Marschall.
Frage: Herr Minister, Deutschland ist in diesem Jahr das einzige Industrieland mit Minuswachstum, manche sprechen wieder vom „kranken Mann Europas“. Wir stecken fest in einer Stagflation, der Kombination aus Stagnation und Inflation. Wie kommen wir da wieder heraus?
Lindner: Wir sollten weder blauäugig sein noch schwarzseherisch. Unsere Wirtschaft hat Substanz. Aber wir brauchen eine andere Politik als in den vergangenen zehn Jahren. Priorität hat für mich zunächst die Bekämpfung der Inflation. Deshalb verbieten sich schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme, denn damit würden wir die Inflation befeuern. Im Gegenteil, wir beenden die expansive Finanzpolitik der Corona-Jahre. Das Defizit des Staats sinkt unter die wichtige Marke von drei Prozent. Außerdem sinkt die Schuldenquote erstmals seit 2019 wieder. Daneben haben wir strukturelle Aufgaben, um unsere Wachstumsdynamik zu erhöhen: kürzere Planungs- und Genehmigungsverfahren, weniger Bürokratie, mehr Arbeitskräfte mobilisieren, geringere Steuern.
Frage: Selbst wenn die Ampel-Regierung diese Aufgaben meistern würde: Sie würden in den zwei Jahren bis zur Bundestagswahl kaum wirken.
Lindner: Mein Horizont ist nicht von Wahlterminen bestimmt. Über Jahre wurde die Wettbewerbsfähigkeit vernachlässigt. Uns muss der Politikwechsel gelingen. Ich halte es für möglich, dass schon nächstes Jahr das Wachstum anzieht.
Frage: Sie wollen mit dem Wachstumschancengesetz die Steuerlast der Unternehmen um sechs, sieben Milliarden Euro im Jahr senken, aber die Bundesländer wollen das im Bundesrat kippen. Was bieten Sie ihnen an?
Lindner: Bund und Länder sollten ein gemeinsames Interesse daran haben, dass die Wirtschaft Fahrt aufnimmt. Alle sozialen und ökologischen Absichten wären sonst unfinanzierbar. Das Wachstumschancengesetz regt Investitionen an und fördert Forschung. Es ist vom Volumen tragbar. Im Jahr 2024 hätten die Länder keine Mindereinnahmen, da der reduzierte Mehrwertsteuersatz auf Gas und Fernwärme früher auslaufen soll. Deshalb wundere ich mich insbesondere über die CDU-Länder. Da hätte ich erwartet, dass eher mehr gefordert wird. Beispielsweise wäre sinnvoll, komplett auf den Solidaritätszuschlag zu verzichten. Das wäre der schnellste Weg, um den Standort wettbewerbsfähiger zu machen. Stattdessen wird in der CDU über höhere Steuern sinniert.
Frage: Während Sie Steuerbelastungen begrenzen, steigen die Sozialabgaben. Wie lässt sich diese Dynamik stoppen?
Lindner: Wir haben erheblichen Reformbedarf. Wir müssen mit den Mitteln effektiver umgehen. Mit dem geplanten Generationenkapital, das auf der Idee der kapitalgedeckten Aktienrente basiert, wollen wir den Beitragsanstieg in der Rentenversicherung dämpfen. Kurzfristig ist meine Sorge die finanzielle Konsequenz der Migration. Wir machen es denen zu schwer zu kommen, die wir als Arbeitskräfte brauchen. Und wir machen es denen zu leicht zu bleiben, die von unserem Sozialstaat profitieren wollen. Das drehen wir um. Alles, was rechtlich möglich ist, müssen wir tun, um die Zahlen irregulärer Einwanderung zu reduzieren.
Frage: Zum Beispiel, indem auch die nordafrikanischen Länder zu sicheren Herkunftsländern erklärt werden und Asylbewerber von dort leichter abgelehnt werden könnten?
Lindner: Ja, aber hier haben wir in der Koalition kein Einvernehmen. Ich will würdigen, dass die Grünen mehrfach über ihren Schatten gesprungen sind. Die Migrationspolitik unterscheidet sich wesentlich von der Vorgängerregierung. Immerhin zwei sichere Herkunftsländer haben wir beschlossen. Ich muss akzeptieren, dass mehr jetzt nicht geht, würde aber begrüßen, wenn die Grünen ihre Position prüfen. Denn wir sind ein weltoffenes Land, das qualifizierte Einwanderung braucht und humanitäre Verantwortung für bedrohte Menschen übernimmt. Das findet aber nur gesellschaftliche Akzeptanz, wenn zugleich irreguläre Einwanderung eingedämmt wird.
Frage: Sie haben in der Diskussion um die Kindergrundsicherung darauf hingewiesen, dass der Anteil der ausländischen Kinder im Bürgergeld seit 2015 stark gestiegen ist, während der Anteil der deutschen Kinder sank. Warum machen Sie diesen Unterschied?
Lindner: Ich mache keinen Unterschied, aber ich will auf Zusammenhänge hinweisen. Nur dann kann man richtige Politik machen. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Kinderarmut und Einwanderung. Deshalb verbessert man die Lebenschancen der Kinder nicht automatisch durch mehr Geld auf das Konto der Eltern. Es geht vielmehr um mehr Sprachkurse für Eltern und Kinder, Arbeitsmarktintegration und bessere Förderung in Kitas und Schulen. So machen wir es jetzt auch. Wir investieren einerseits in Bildung, andererseits ist mit der Kindergrundsicherung keine pauschale Erhöhung von Geldleistungen verbunden.
Frage: Warum haben Sie den Kabinettsbeschluss zur Kindergrundsicherung in dieser Woche gestoppt?
Lindner: Das Familienministerium hat die Gründe zutreffend beschrieben. Einerseits geht es um die technische Frage des so genannten Kindergeldübertrags. Wir müssen abwägen zwischen Verwaltungskosten und im Einzelfall höheren Geldleistungen, die den Arbeitsanreiz reduzieren könnten. Zum anderen wollen SPD und Grüne bei Asylbewerbern dauerhaft 20 Euro mehr pro Kind und Monat zahlen. Das unterstütze ich nicht. Die Regelsätze sind angemessen und wir sollten gerade beim Asylbewerberleistungsgesetz keine falschen Signale senden.
Frage: Wie verhindert die Regierung, dass die Kindergrundsicherung den Erwerbsanreiz für Eltern verringert?
Lindner: Es war mir wichtig, dass es bei der Kindergrundsicherung keine Leistungsausweitungen gibt. Am Abstand zwischen einem Lohneinkommen und der Sozialleistung soll sich nichts Wesentliches ändern. Eine fünfköpfige Familie im Bürgergeld bekommt bereits gut 37.000 Euro im Jahr vom Steuerzahler. Das ist nicht viel für fünf Menschen, aber es ist kein Elend. Immerhin handelt es sich um eine Nothilfe, denn Unterstützung durch den Sozialstaat soll ja gar kein Dauerzustand sein. Höhere Geldleistungen würden bei Familien, die für geringe Einkommen arbeiten, nicht als fair empfunden. Es führt kein Weg daran vorbei, dass wir Armut nur durch Bildung und Arbeit beenden. Wir haben immer noch zu viele Menschen, die arbeiten könnten, jedoch nicht arbeiten. Da müssen wir ran. Von besserer Kinderbetreuung über Qualifizierung und schnellerer Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen bis hin zu finanziellen Anreizen. Ich setze daher Hoffnung in eine Studie des Arbeitsministers zum Thema Lohnabstand, die er noch dieses Jahr vorlegen will.
Frage: Bald legen Sie gemeinsam mit Arbeitsminister Heil auch das Rentenpaket vor. Das Rentenniveau soll dauerhaft bei 48 Prozent stabilisiert werden, also auch ab 2025 für künftige Rentner. Wie stellen Sie sich die Finanzierung vor?
Lindner: Wir wollen das Rentenniveau dauerhaft bei 48 Prozent festschreiben, aber dafür gibt es zwei wichtige Voraussetzungen: Mehr Menschen müssen in Arbeit gebracht werden. Punkt zwei: Das Generationenkapital muss nachweisbar einen Beitrag zur Stabilisierung der Rentenfinanzen leisten. Die Fortschritte bei beidem müssen wir in regelmäßigen Abständen überprüfen. Nur wenn sie sich einstellen, kann ein Rentenniveau von 48 Prozent tragbar finanziert werden.
Frage: Das heißt: Die Stabilisierung des Rentenniveaus ist gar nicht garantiert, sondern hängt an diesen Bedingungen?
Lindner: Das Rentenniveau soll dauerhaft 48 Prozent betragen. Zu dieser Übereinkunft stehen wir. Aber die ökonomischen Voraussetzungen müssen wir erarbeiten.
Frage: Das Generationenkapital wollen Sie in den kommenden Jahren mit Hilfe von neuen Schulden weiter aufstocken?
Lindner: Die Idee ist, deutsche Staatsanleihen in Wertpapiere zu tauschen, die eine höhere Rendite erzielen. Mit den Erträgen dämpfen wir die Rentenbeiträge in den 2030-er Jahren. Diese Strategie würde bei Privatleuten nicht funktionieren, aber beim deutschen Staat. Unter der Bedingung, dass er weiter der Goldstandard der Staatsfinanzierung bleibt. Dafür stehe ich.
Frage: Wie finanzieren Sie die deutliche Erhöhung des Bürgergeldes zum 1. Januar 2024 um zwölf Prozent bei einem Haushalt, der schon auf Kante genäht ist?
Lindner: Die gesetzlich notwendige Bürgergeld-Erhöhung ist höher als von uns prognostiziert. Die Mittel werden wir im Haushaltsverfahren noch finden müssen. Das heißt, dass der finanzielle Spielraum sich weiter verringert. Mir ist übrigens wichtig, dass die Inflationsanpassung nicht nur bei den Sozialleistungen erfolgt. Auch die arbeitende Bevölkerung braucht Fairness. Deshalb muss der Grundfreibetrag bei der Steuer um 180 Euro steigen. Das ist eine zusätzliche Steuerentlastung von fast zwei Milliarden Euro.
Frage: Und wie steht es mit dem Haushaltsrisiko zusätzlicher Flüchtlingsausgaben? Die Länder verlangen vom Bundeskanzler deutlich mehr Geld für die Versorgung von immer mehr Migranten.
Lindner: Der Bund hat eine doppelte Botschaft an die Länder: Die Länder schultern die wachsende Last der Migrationskosten, der Bund hat mit der Bundeswehr aber auch Aufgaben, die eine neue finanzielle Dimension haben. Zum anderen erkennen wir an, dass die Migrationspolitik eine Verantwortung von Bund und Ländern ist. Da engagiert der Bund sich schon stark. Aber es geht nicht nur um die Verteilung der finanziellen Lasten, sondern vor allem um die Herstellung von Kontrolle. Wir brauchen schnellere Asylverfahren, mehr Abschiebungen und so weiter. Eine Politik de facto offener Grenzen wäre nicht verantwortbar.
Frage: Die grüne Außenministerin hat immerhin der Reform des EU-Asylsystems und den Lagern an den Außengrenzen der EU bereits zugestimmt…
Lindner: …immerhin. Ich erkenne das an. Aber es müssen wirklich weitere Schritte kommen.
Frage: Themawechsel: Die Industrie klagt über zu hohe Energiepreise. Wie wollen Sie sie senken?
Lindner: Das geht nur über eine Ausweitung des Stromangebots. Also schneller Planen und Bauen. Wir sollten auch nicht immer früher aus Technologien aussteigen, bevor Ersatz geschaffen ist. Politisch wäre ich zudem offen dafür, den energieintensiven Unternehmen wie bisher die Stromsteuer im sogenannten Spitzenausgleich zu erstatten. Dieses Instrument würde dieses Jahr auslaufen, weil es immer als klimaschädlich kritisiert wurde. So verhindert man zumindest ansonsten noch weiter steigende Preise. Aber finanziell müssten wir dafür woanders sparen.
Frage: Warum sind Sie gegen einen Industriestrompreis, also das befristete Heruntersubventionieren des Strompreises für die Unternehmen?
Lindner: Wo waren eigentlich die Sorgen um die Energiepreise, als Deutschland kürzlich gegen den Rat der FDP günstigen und sauberen Strom aus Kernenergie abgeschaltet hat? Ein Industriestrompreis ist erstens nicht finanzierbar. Zweitens verzerrt er den Wettbewerb zwischen Konzernen und Mittelstand. Drittens könnte er den Anreiz für die Industrie reduzieren, langfristige Lieferverträge ohne Subventionen zu schließen. Die würde auf eine Dauersubvention spekulieren. Und das würde sich nachteilig auf den Zubau von Solarkraftwerken und Windkraft auswirken.
Frage: Also einen Industriestrompreis wird es mit Ihnen nicht geben?
Lindner: Ich habe starke Verbündete – von der Schuldenbremse bis hin zum EU-Beihilferecht.
Frage: Die FDP hat seit den Landtagswahlen im vergangenen Jahr bei vielen Projekten Sand ins Ampel-Getriebe gestreut, etwa beim Heizungsgesetz…
Lindner: Ihre Wertung teile ich nicht, aber in der Tat verfolgt die FDP eine eigene Linie. Ich habe den Eindruck, dass uns beim Heizungsgesetz Millionen Menschen unterstützt haben. Denn dieses Gesetz ist jetzt praxistauglich, offen für alle Technologien und frei von unwirtschaftlichen Verboten. Wir sind eben nicht wie unsere Koalitionspartner eine linke Partei, sondern eine Partei der Mitte.